Gewalt im Klassenzimmer – wie weit darf die Schule gehen?

Schulrechtsfall
Basis

Der Schulalltag kann oft herausfordernd sein. Lehrkräfte sind nicht nur Wissensvermittler, sondern oft auch Schlichter, Bezugspersonen und, im schlimmsten Fall, Adressaten oder Zeugen von Konflikten. Besonders schwer wiegen Situationen, in denen körperliche Gewalt ins Spiel kommt. Solche Vorfälle stellen nicht nur eine unmittelbare Gefahr dar, sondern erfordern auch konsequente Reaktionen seitens der Schule, um die Sicherheit aller Beteiligten zu gewährleisten und klare Grenzen aufzuzeigen. Doch welche Ordnungsmaßnahmen sind rechtlich zulässig und haltbar, wenn Schüler gegen Regeln verstoßen? Eine aktuelle Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen gibt hierzu wichtige Orientierung.

Gewalt in der Schule: Gericht bestätigt Unterrichtsausschluss und Entlassungsandrohung

Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) hat am 05. Mai 2025 (AZ: 19 A 1077/23) die Rechtmäßigkeit von Ordnungsmaßnahmen gegen einen Schüler bestätigt, der Mitschüler gewürgt und getreten haben soll. Die Entscheidung stärkt die Handlungsfähigkeit von Schulen bei schwerwiegendem Fehlverhalten und zeigt die Grenzen rechtlicher Anfechtungen auf. Die Richter sahen keinen Grund, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil des Verwaltungsgerichts Köln zuzulassen, das die Klage des Schülers und seiner Eltern abgewiesen hatte. Damit bleiben die vom Verwaltungsgericht als rechtmäßig bestätigten Ordnungsmaßnahmen – ein Unterrichtsausschluss und die Androhung der Entlassung von der Schule – bestehen.

Gewalt an der Schule - Schulverweis

Am 20. Mai 2022 kam es zu einem Vorfall an einer Schule in Nordrhein-Westfalen, bei dem der Kläger, ein Schüler, zwei Mitschüler schwer verletzte. Laut den Berichten des Lehrpersonals und Zeugenaussagen aus der Schülerschaft reagierte der Kläger übermäßig auf einen Papierflieger, der ihn traf, und setzte einen Mitschüler durch Würgen in einen hilfebedürftigen Zustand. Ein weiterer Mitschüler wurde durch einen Fußtritt verletzt. Infolge dieses Vorfalls entschloss sich die Schulleitung zu einer fünf Tage andauernden Ordnungsmaßnahme, einem Unterrichtsausschluss, und drohte dem Schüler mit einer möglichen Entlassung.

Der betroffene Schüler und seine Eltern bestritten diese Darstellung. Sie behaupteten, der Schüler habe sich lediglich verteidigt, nachdem er provoziert worden sei, und er habe keine Erinnerung an den Vorfall. Sie bemängelten zudem die Sachverhaltsermittlung und Dokumentation durch die Schule als unzureichend und nicht objektiv.

Schule hat mit ihren Ordnungsmaßnahmen richtig gehandelt

Das OVG NRW bestätigte die Einschätzung des Verwaltungsgerichts Köln, dass die verhängten Ordnungsmaßnahmen rechtmäßig waren.

  1. Tatsachenfeststellung und Beweisführung: Das Gericht hielt die Sachverhaltsdarstellung der Schule für überzeugend und die Ermittlung durch die Klassenlehrerin für ausreichend. Es betonte, dass die Sachverhaltsermittlung bei pädagogischen Ordnungsmaßnahmen nicht denselben strengen Formen wie im Strafprozessrecht unterliege. Die Schule habe die Aussagen mehrerer Schülerinnen und Schüler unabhängig voneinander eingeholt und dokumentiert. Die eigene Wahrnehmung der Lehrerin vom Zustand des gewürgten Schülers sei ebenfalls berücksichtigt worden. Die abweichende Darstellung des Klägers sei nicht glaubhaft. Die Kläger hätten auch im Zulassungsverfahren keine konkreten Tatsachen geliefert, die die Schulschilderung widerlegen könnten, sondern seien bei bloßen Behauptungen geblieben.
  2. Anhörung des Schülers/der Eltern: Die Kläger hatten argumentiert, die notwendige vorherige Anhörung sei nicht erfolgt. Das OVG folgte dem Verwaltungsgericht in der Annahme, dass die Klägerin (die Mutter) die Möglichkeit gehabt habe, per E-Mail auf die Ankündigung des Unterrichtsausschlusses durch die Schulleiterin zu reagieren, was als ausreichende Anhörung gelte. Unabhängig davon, so das Gericht weiter, habe hier ein "dringender Fall" im Sinne des Schulgesetzes vorgelegen. Angesichts der feststehenden gewalttätigen Reaktion aus geringfügigen Anlass, der Schwere der Verletzungen und der fehlenden Einsicht des Schülers sei die Annahme gerechtfertigt gewesen, dass weitere körperliche Übergriffe drohen könnten. In einer solchen akuten Gefährdungssituation dürfe auf die vorherige Anhörung verzichtet werden.
  3. Rechtfertigung der Maßnahmen: Das Gericht sah das Verhalten des Schülers als klare Pflichtverletzung im Sinne des Schulgesetzes an. Die Behauptung der Kläger, es habe sich um Notwehr gehandelt, wurde angesichts der vom Gericht als erwiesen angesehenen Tatsachen (Würgen und Treten) zurückgewiesen. Das Verhalten sei zudem schwerwiegend und geeignet, eine Androhung der Entlassung zu rechtfertigen.
  4. Mehrere Ordnungsmaßnahmen für dasselbe Fehlverhalten: Ein wichtiger Punkt für die schulische Praxis: Das OVG bestätigte, dass das im Strafrecht geltende Verbot der Doppelbestrafung im Schulrecht keine Anwendung findet. Schwerwiegendes Fehlverhalten eines Schülers kann unter Umständen neben einer unmittelbaren "Akutmaßnahme" wie einem Unterrichtsausschluss auch eine weitere, strengere Maßnahme wie die Androhung der Entlassung nach sich ziehen, auch wenn sich beide auf denselben Vorfall beziehen. Die Rechtmäßigkeit jeder Maßnahme müsse eigenständig geprüft werden. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass unterschiedliche schulische Gremien für verschiedene Ordnungsmaßnahmen zuständig seien (Schulleitung für Ausschluss bis 2 Wochen, Teilkonferenz für Androhung/Entlassung), was ebenfalls getrennte Entscheidungen erfordere.

Das Gericht stellte zudem klar, dass im vorliegenden Fall keine Verfahrensfehler des Verwaltungsgerichts vorlagen. Insbesondere sei die Aufklärungspflicht nicht verletzt worden, da die Kläger keine Beweisanträge gestellt hätten und sich weitere Ermittlungen dem Gericht auch sonst nicht aufdrängen mussten. Auch die richterliche Überzeugungsbildung und die Gewährung rechtlichen Gehörs wurden nicht beanstandet.

Diese Entscheidung unterstreicht die Möglichkeit von Schulen, bei schwerwiegenden gewalttätigen Übergriffen von Schülerinnen und Schülern konsequent durchzugreifen. Sie bestätigt, dass die schulische Sachverhaltsermittlung bei Ordnungsmaßnahmen eigenen Maßstäben folgt, und verdeutlicht, dass auch mehrere Disziplinarmaßnahmen für einen einzelnen, gravierenden Vorfall zulässig sein können, um der Schwere des Fehlverhaltens und der Notwendigkeit präventiver Maßnahmen gerecht zu werden.

Informationen: www.anwaltauskunft.de

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